Autismus und Gefühle

Probleme beim Abspeichern und Erinnern von Gefühlen

Je emotionaler ein Ereignis bzw. je mehr Sinneseindrücke beteiligt sind, desto besser kann man sich daran erinnern. Zu einer Erinnerung sind mehrere Informationen gleichzeitig erforderlich: Handlung, Ort, Zeit, Geruch und Stimmung.

Die Gehirnforschung weiß, dass Emotionen, Sinneseindrücke und kognitive Informationen in der Inselrinde des Gehirns miteinander verflochten werden. Veränderungen in dieser Struktur werden mit neurologischen Störungen wie Autismus und Schizophrenie in Verbindung gebracht. Neue Studien zeigen, dass die Sinnesverarbeitung in der Inselrinde von autistischen Mäusen gestört ist. Dieser Störung liegt ein Ungleichgewicht zwischen aktivierenden und hemmenden Synapsen zugrunde, das sogar durch Medikamente korrigiert werden kann. (https://www.bi.mpg.de/1948677/research_report_8789630?c=2334068)

Wenn wir uns ein Ereignis merken, verteilt das Gehirn die zugehörigen Gedächtnisinhalte nicht zufällig auf verschiedene Nervenzellen. Vielmehr bestimmt die Konzentration des Proteins CREB, welche Neurone die Information speichern. Kurz aufeinander folgende Erlebnisse werden im Gedächtnis miteinander verknüpft. Die Erinnerung an das eine löst meist auch jene an das andere aus. Das Gehirn speichert die entsprechenden Inhalte in teilweise identischen Neuronengruppen ab. (s. https://www.spektrum.de/magazin/gedaechtnis-wie-wir-erinnerungen-verknuepfen/1519031)

Tanzbär* kann sich nicht (gut) an Gefühle in Situationen erinnern, sie nicht abrufen. Ich nehme an, dass liegt teilweise daran, dass er zum einen Gefühle nur schwer erkennen und einordnen kann und / oder sie wegen des Dauerstress in bestimmten Lebenslagen nicht mit abspeichern konnte, weil die Amygdala ständig feuert. Lärm, Schmerz oder anderer Stress sind Störreize, die das Gedächtsnis beeinträchtigen. Das wiederum hat dazu geführt, dass er nicht gut aus Erfahrungen lernen kann (sondern nur mit Hilfe von Meinungen und Hinweisen anderer Menschen oder von Fakten). Aus diesem Grund haben ihn wahrscheinlich negative Erfahrungen trotz Wiederholung nicht abgeschreckt, weil also Aggression beispielsweise nicht negativ bewertet waren, sondern neutral blieben. Auf der anderen Seite konnten auch Vorbilder keinen nachhaltigen positiven Einfluss erzielen. Letzteres wiederum könnte daran liegen, dass Tanzbär menschliche Handlungen einfach gar nicht bewerten kann, also keine Bewertung mit abspeichert, also auch später keine Bewertung aus der Erfahrung heranziehen kann. Es gibt auch einen Vorteil an der Sache: die negativen Erlebnisse (und davon gab es sehr viele) haben nicht ganz so viel Einfluss auf späteres Wohlbefinden. Tanzbär kann kurze Zeit nach einem dramatischen Ereignis wieder lachen und von ganz anderen Dingen erzählen. Es gibt also kaum einen „Nachklang“.

Aber: Tanzbär träumt oft von Situationen aus der Kindheit und Jugend, die er als „schön“ empfindet und traurig ist, wenn er aufwacht, z. B. Schule mit Kumpels, Erlebnisse mit den Großeltern oder Katzen. Irgendetwas ist also im Traummodus anders! Kommen träume nicht aus der Erinnerung? Oder ist die Erinnerung an Gefühle nur im Bewusstseinsmodus deaktiviert?

Gibt es einen Zusammenhang mit Déjà-vus?

Tanzbär hat oft Déjà-vus, vielleicht, weil er sich an die echten Erinnerungen nicht richtig erinnern kann, also keinen Zugang zu ihnen bekommt und dann nur eine Ahnung an eine Erinnerung hat, weil das Gefühl vielleicht nicht korrekt hinzugespeichert wurde. Sind die Déjà-vus Gefühlserinnerungen, die nicht richtig zugänglich sind, weil die Gefühle nicht abgespeichert sondern jetzt neu erzeugt wurden?

Eine 2. Möglichkeit wäre, dass Tanzbär genausoviele Déjà-vus hat, wie jeder andere auch, ihnen aber aufgrund seiner intensiveren Sinneswahrnehmung einen höheren Stellenwert gibt.

Formen von Déjà-vus

  1. assoziative Form: wird nicht von spezifischen Vorahnungen begleitet
  2. subjektiv paranormalen Form: Betroffene glauben zu wissen, was als Nächstes passieren wird

Wissenschaftliche Thesen zu Déjà-vus

  1. Erinnerungsthese: Die tatsächlich erlebte Situation wurde im Gehirn nicht vollständig abgespeichert oder vergessen. Nun reaktivieren bestimmte Reize den vergessenen Gedächtnisinhalt und lösen damit das Gefühl der Vertrautheit aus. In dieser Theorie kommt also dem physischem Umfeld eine bedeutende Rolle für die Entstehung von Déjà-vus zu. Dabei kann es sich um visuelle Reize handeln, zum Beispiel wenn ein Zimmer optisch Ähnlichkeit zu einem anderen Raum aufweist. Aber auch Gerüche, Temperatur und Geräusche sind bedeutsam. Eine Variante dieser Theorie ist die Split-Perception-Theorie. Ihr zufolge nimmt die Person eine Situation zweimal hintereinander wahr. Beim ersten Mal nimmt das Gehirn die Umgebungsreize jedoch nicht vollständig auf, etwa weil die Person abgelenkt ist. Erst beim zweiten Mal nimmt sie die Situation bewusst wahr. Die Wahrnehmung derselben Situation wird im Gehirn jedoch in zwei Teile aufgespalten. So empfindet man beim zweiten bewussten Blick ein Gefühl der Vertrautheit der Situation, während man gleichzeitig denkt, man müsste dies eigentlich gerade zum ersten Mal erleben.
  2. Die These der „zufälligen“ Fehlzündung: äußere Reize sind hier nicht unbedingt notwendig, um ein Déjà-vu auszulösen. Wichtiger ist hingegen, was im Gehirn passiert. So gerät bei dieser Theorie das Gedächtnissystem aus dem Gleichgewicht, erklärt der Kognitionspsychologe Akira Robert O’Connor gegenüber Scientific American. Eine zentrale Rolle spielt dabei der sogenannte mediale Schläfenlappen. Dieser sitzt direkt hinter der Schläfe und ist unter anderem verantwortlich für das Kodieren und Abrufen von Erinnerungen. Nervenzellen in diesem Areal könnten auch ohne einen bestimmten Reiz plötzlich „feuern“, also Informationen weiterleiten. Somit werden also Teile des Gehirns fälschlicherweise aktiviert, die ein Gefühl der Vertrautheit auslösen. Andere Gehirnregionen empfangen die Signale und vergleichen das Gefühl mit Erinnerungen an frühere Erlebnisse. Bei einem Déjà-vu finden sich jedoch keine Übereinstimmungen. Daher gesellt sich zudem vertrauten Gefühl das Wissen darüber, dass dies gerade unangemessen ist. Laut Scientific American stützt die Tatsache, dass Déjà-vus bei jungen Menschen öfter auftreten, diese Theorie. Denn jüngere Gehirne zeichnen sich in der Regel durch Nervenzellen aus, die aktiver und schneller feuern. Bei älteren Menschen sei zudem das Areal für den Faktencheck, der frontale Kortex, weniger aktiv. Das fehlerhafte Vertrautheitsgefühl wird dadurch eher hingenommen und gerade nicht durch das Wissen ergänzt, dass eine Person die Situation eigentlich noch nie erlebt hat.

Menschen verstehen? – Wenn man so gar nicht in andere hineinschauen kann

Du hast bestimmt schon einmal von der „Theory of Mind“ gehört oder gelesen. Die Theory of Mind beschreibt die Fähigkeit, das Verhalten anderer und ihren mentalen Zustand (wissen, glauben, wollen, fühlen) zu verstehen. Sie ist für ein Leben in der Gemeinschaft erforderlich, um Handlungen anderer Menschen voraus- bzw. abzusehen und in die eigen Planung miteinzubeziehen. Menschen im Autismusspektrum fehlt diese Theory of Mind. Physiologisch lassen sich innerhalb bestimmter Hirnregionen bestimmte Neuronentypen identifizieren, die die Theory of Mind beeinflussen: Spiegelneurone, von Economo-Neurone, magno- und parvozelluläre Neurone. Sie sind jeweils sehr unterschiedlich charakterisiert, und eine feste Funktionszuordnung erfolgt derzeit mit Vorbehalt. [Förstl, H., Walther, A. (2012). Zelluläre Korrelate der Theory of Mind: Spiegelneurone, Von-Economo-Neurone, parvo- und magnozelluläre Neurone. In: Förstl, H. (Hrsg.) Theory of Mind. Springer, Berlin, Heidelberg]

Mitfühlen? – Wenn die Spiegelneurone fehlen

Die sogenannten Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die in unserem Gehirn bei Beobachtung einer Handlung bei anderen das gleiche Aktivitätsmuster zeigen wie in dem Moment, in dem man diese Handlung selbst ausführt. Autisten haben diese Spiegelneuronen nicht. Aufgrund des Fehlens der Spiegelneuronen kann der Autist nicht mitfühlen. Er kann sich zwar aktiv einfühlen, ist also emphatisch, kann aber nicht mitfühlen. Auch schon deshalb, weil er ja das Gefühl des Gegenüber garnicht erkennen kann. Nichtsdestotrotz haben Autisten eine extrem feine Antenne. Das heißt, sie nehmen aufgrund ihrer Hochsensibilität alles wahr, was in ihrer Umgebung geschieht – auch wie sich ein Mensch verhält und sich sein Gesichtsausdruck verändert. Sie können diese Veränderung nur nicht deuten.

Ein Beispiel: Tanzbär spürt stark, welche Stimmung ich habe, nimmt sie aber nicht in sich selbst wahr und kann sie auch nicht deuten. Tanzbär merkt z. B., dass ich „komisch schaue“ und dass etwas nicht stimmt, während er unentwegt von seinen IT-Fachthemen / PC-Spielen spricht, mich um Entscheidungshilfe bittet, diese aber auch immer wieder in Frage stellt. Er wird sauer, weil ich offensichtlich nicht zufrieden und bei der Sache bin. Da ihm die Spiegelneuronen fehlen, spürt er aber dieses Unwohlsein bei mir nicht und hat dadurch auch nicht das Bedürfnis, aufzuhören (wie ein NT, der langsam das Unwohlsein seines Gegenübers selbst spürt und es vermeiden möchte, also die Rede beendet). Er kennt auch das Gefühl nicht, von diesen Themen gelangweilt zu sein, weil ihn das nie betreffen würde.

*Bei der Schilderung von tatsächlichen Erfahrungen aus dem realen Leben wird „Tanzbär“ als Synonym für einen autistischen Menschen genutzt. Diese Bezeichnung wiederum verdanken wir einem autistischen jungen Mann, der von Gestalt und Verhalten durchaus Ähnlichkeit mit einem Bären hat, genauso lieb sein kann, aber auch wild werden kann und seine gute Laune spontan durch Boogie-Tanzen zeigt. In Kursivschrift geschriebene Absätze schildert persönliche Erfahrungen und Vermutungen der Redaktion.